Die Jugend von heute hat’s nicht leicht. Allein 3000 Whatsapp-Nachrichten müssen jeden Monat geschrieben oder gelesen werden. Das hat soeben eine Studie herausgefunden. Dazu passend hat Microsoft kürzlich eine Untersuchung veröffentlicht, die zeigt, dass die Aufmerksamkeitsspanne bei uns Menschen immer weiter abnimmt – von zwölf Sekunden im Jahr 2000 auf acht Sekunden 2013. Angeblich sollen Goldfische eine Sekunde länger konzentriert bleiben können.
Nicht bloß Jugendliche, wir alle kennen das: Termin folgt auf Termin. Immer die Deadlines im Nacken. An die privaten Pflichten erinnert zwischendurch das Piepen des Handys: Kurznachrichten, E-Mails, soziale Netzwerke. Dort protzen Bekannte mit Reisen oder absolvierten Marathonläufen um die Wette. Bei den Werbemodels kneift kein Hosenbund. So jagt ein Reiz den nächsten. Dass das heutige Leben kaum noch Pausen kennt, kann an der seelischen Gesundheit nagen, fürchten Psychiatrie-Experten. Sie fordern eine bessere Erforschung der modernen Lebensumstände.
„Alle sind leistungsfähig, schön und jung und möchten das möglichst lange bleiben. Das hat Folgen im Verhalten der Menschen“, sagte Iris Hauth, die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. „Ich würde nicht sagen, Lifestyle macht Erkrankungen. Aber Lifestyle bewirkt Verhaltensveränderungen und emotionale Veränderungen, die gegebenenfalls Risikofaktoren für eine Erkrankung werden können.“ Sie sieht in diesem Feld Möglichkeiten für Vorbeugung und Therapie.
In Zahlen schlägt sich die Befürchtung bisher nur bedingt wieder. Die „echten“ psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Süchte haben laut Hauth in den vergangenen 15 Jahren nicht zugenommen. „Was zunimmt, sind Befindlichkeitsstörungen unter der Schwelle einer echten psychiatrischen Diagnose.“ Als Chefärztin einer Berliner Klinik erlebe sie, dass zum Beispiel zunehmend junge Menschen mit Prüfungs- oder Partnerschaftsstress in der Notaufnahme Hilfe suchen.
Hauth zählt weitere Phänomene auf, die für sie ins Bild passen: Da sind Eltern, die ihr zappliges Kind mit Tabletten optimal durch die Schulzeit bringen wollen. Menschen, die sich fragen, ob ihre Aufenthaltsdauer im Internet noch normal ist. Frauen, die nicht mehr nur Diäten ausprobieren, sondern sich dauerhaft mit ihrem Aussehen beschäftigten und sogenannte Körperbildstörungen entwickeln. Und dann sind da noch die bis zu fünf Prozent der Berufstätigen, die mit Medikamenten Hirndoping betreiben, wie Claus Normann von der Uni Freiburg sagt. Tendenz steigend. „Unter Studenten dürften die Zahlen noch höher liegen.“
Besteht Grund zur Sorge um die Gesellschaft? Jein. Wie gut Menschen mit Stress zurechtkommen, ist auch eine Frage der persönlichen Verfassung. Dem Druck der Selbstoptimierung setzten sich vor allem Menschen aus, denen es an Selbstwertgefühl mangele, sagt Hauth. „Wenn ich dagegen genügend Selbstwertgefühl habe – was mit der eigenen Persönlichkeit, Vererbtem, aber auch Erfahrungen der ersten 15 bis 20 Lebensjahre zu tun hat – dann ist das ein wesentlicher Resilienzfaktor.“ Unter Resilienz wird die Fähigkeit verstanden, mit Tiefschlägen umzugehen – und gesund zu bleiben.
Jeder kann auch selbst etwas tun. Hauth ruft zu mehr Muße auf: „Auch einmal nichts zu tun, ist für die Gesundheit des Gehirns unglaublich hilfreich.“ Man müsse nicht alles machen, was der Markt biete. Ihre Patienten bringt sie dazu, sich die gelungenen Dinge des Tages vor Augen zu führen statt der Defizite. Und sie appelliert, Kontakte zu pflegen: Einzelgänger, die sich isoliert fühlen, trügen ein besonderes Risiko für psychische Erkrankungen und seien angreifbarer als Menschen in gesunden Beziehungen.
Im englischsprachigen Raum wird derzeit Entschleunigung nach dänischem Vorbild propagiert. Denn in Dänemark leben die nach Umfragen glücklichsten Menschen der Welt. Als Schlüssel gilt „Hygge“, was so etwas wie Gemütlichkeit bedeutet. Das Nachmachen ist gerade zu dieser Jahreszeit ziemlich einfach: Eine Kerze anzünden, Handy ausschalten, heißen Kakao trinken, zurücklehnen und dem schnellen Leben für ein Weilchen entsagen.
Zum Thema: Ab und an ein bisschen Stress muss nicht schädlich sein. Stress kann sogar helfen: Der Körper wird durch das Hormon Kortisol in Alarmbereitschaft versetzt und stellt sich so schnell auf neue Situationen ein. Von einem Risikofaktor für psychische Erkrankungen sprechen Experten, wenn der Stress chronisch wird, also ständig auftritt. Betroffene finden keine Ruhe mehr. Neben psychischen Konsequenzen können auch Tinnitus oder Bluthochdruck zu den Folgen zählen.