Herr Rigotti, sagen Sie es uns: Was ist dran an dem Klischee, dass Hartz-IV-Empfänger nur faul vor dem Fernseher sitzen?
RIGOTTI: Das Bild vom «faulen Sozialschmarotzer» wird vor allem durch bestimmte Medien verbreitet, weil sich solche Geschichten besser verkaufen lassen. Es trifft keinesfalls auf die Mehrheit zu. Fakt ist: Erwerbslosigkeit geht mit einem höheren Risiko einher, an psychischen Störungen zu erkranken, vor allem an Depressionen. Die Anzahl depressiver Menschen unter den Erwerbslosen ist doppelt so hoch wie bei Erwerbstätigen. Es ist mittlerweile nachgewiesen, dass die Erwerbslosigkeit eher Auslöser etwa von Depressionen ist, als dass psychisch labilere Personen erwerbslos werden. Die Symptome von Depressivität, wie Antriebslosigkeit, Niedergeschlagenheit, morgens nicht aus dem Bett kommen oder eine Selbstwertminderung, werden dann von außen häufig als Faulheit interpretiert.
Wenn es dennoch stimmen sollte, dass viele Hartz-IV-Empfänger sich vor Maßnahmen drücken und sich lieber mit ihrer derzeitigen Lebenssituation arrangieren, müsste dass ja heißen, dass vielen ein Leben als Bezieher von staatlichen Leistungen gar nichts ausmacht. Ist das so?
RIGOTTI: Das ist auf gar keinen Fall so. Man kann sagen, dass mit zunehmender Erwerbslosigkeit auch eine Resignation einsetzt. Vor allen Dingen, wenn viel investiert wurde, um eine neue Stelle zu bekommen, und es dann mit einem neuen Job nicht funktioniert hat. Generell kann man aber nicht sagen, dass die Mehrheit der Arbeitslosengeldempfänger ihre Situation einer Erwerbstätigkeit vorzieht.
Welche Auswirkungen kann es noch auf die Psyche eines Menschen haben, Hartz-IV-Empfänger zu sein?
RIGOTTI: Abgesehen davon, dass natürlich zunächst finanzielle Ressourcen wegfallen, das heißt, dass man sich in seiner Lebensführung einschränken muss, kann es in der Familie oder in der Partnerschaft zu einem Rollentausch kommen. Plötzlich hat man etwa nicht mehr die Rolle des Hauptverdieners inne. Natürlich fallen auch ganz viele der positiven Faktoren von Arbeit weg: etwa die psychosoziale Einbindung. Aber auch Erfolge und positive Rückmeldungen. Daneben durch den Arbeitsalltag eine Struktur zu haben und in soziale Systeme eingebunden zu sein – das sind alles Dinge, die oft vergessen werden, wenn über Arbeit gesprochen wird. Arbeit wird als nötige Last empfunden, aber Arbeit bringt, neben dem Gehalt, auch viel psychosozialen Rückhalt mit sich.
Arbeitsministerin Ursula von der Leyen hat kürzlich gesagt, der Begriff Hartz IV sei zu negativ besetzt; sie will ihn deswegen verbannen.
RIGOTTI: Hinter Umstrukturierungen, etwa der Bundesagentur für Arbeit und der Arbeitsgemeinschaften in «Jobcenter» steckt zunächst einmal ein guter Gedanke, der auch aus psychologischer Sicht zu befürworten ist: Dass man nämlich den Arbeitslosen als Kunden und die Berufsberater als Dienstleister begreift. Aber das Image der deutschen Amtsstube hat sich allein durch die Umbenennung von Arbeitsamt in «Jobcenter» noch nicht gewandelt. Das liegt nicht nur daran, dass es zunächst mal nur eine Namensänderung ist, sondern auch an strukturellen Defiziten, beispielsweise in der Professionalität der Berater der Bundesagentur, die noch verbesserungsfähig ist.
Wie meinen Sie das?
RIGOTTI: Ein Problem ist, dass die Arbeitsberater für eine ganz große Palette vonBerufsausbildungen zuständig sind. Das heißt, sie sind nicht spezialisiert. Es gibt in vielen Berufsfeldern sehr spezifische Karrieren und Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Ein Arbeitsberater kann sich nicht in allen Berufen und Ausbildungswegen auf einmal auskennen. Es wäre günstiger, wirkliche Spezialisten zu finden. Und gerade bei den Langzeitarbeitslosen müssen die Berater auch psychosoziale Beratung leisten. Der Job als Berater bei der Arbeitsagentur ist an keine speziellen Qualifikationen gebunden. Man fängt an und wird «on the job» trainiert.
Das klingt danach, dass das System der Arbeitsagenturen mit Maßnahmen, um in den ersten Arbeitsmarkt zurückkehren zu können,
dem individuellen Befinden der Menschen überhaupt nicht gerecht wird. Ist das nicht ein Punkt, der zu oft ausgeblendet wird? Man spricht immer nur vom Geld. Das Bundesverfassungsgericht wird etwa kommende Woche darüber entscheiden, ob man von den derzeitigen Hartz-IV-Regelsätzen leben kann.
RIGOTTI: Ich denke, dass es gar nicht so sehr darum geht, wie viel Euro man zum Leben braucht. Die Wertschätzung für die Menschen, die Hartz IV erhalten, lässt sich nicht in Euro ausdrücken. Ganz wichtig ist – vor dem Hintergrund, dass Erwerbslosigkeit der Auslöser für psychische Krankheiten sein kann – , dass man Angebote schafft, um betroffene Menschen zu stabilisieren. Oder dass Erfolge vermittelt werden. Das kann man nicht, indem man den Druck auf Hartz-IV-Empfänger erhöht, bestimmte Tätigkeiten anzunehmen oder möglichst viele Bewerbungen zu schreiben. Viel wichtiger und nachgewiesen bedeutender für den Wiedereinstieg ins Erwerbsleben ist eine realistische Einschätzung über die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und vor allem die Qualität der Bewerbungen. Es bringt nichts, dass man zehn Bewerbungen in der Woche schreibt, sondern eine richtig gute. Außerdem wäre eine bessere Unterstützung beim Bewerbungsverhalten wichtig. Menschen, die depressiv sind, können sich nicht positiv darstellen, weil sie sich selbst nicht positiv wahrnehmen. Und: Nicht jede Arbeit ist aus arbeitspsychologischer Sicht besser als die Erwerbslosigkeit. Also sogenannte «bad jobs». Es gibt durchaus Arbeiten, die machen noch mehr krank, als keine Arbeit zu haben.
Welche zum Beispiel?
RIGOTTI: Beispielsweise an- und ungelernte Arbeiten oder Arbeitsbeschäftigungsmaßnahmen, bei denen im Prinzip die Arbeitskraft nur ausgebeutet wird – vor allem auf dem Niedriglohnsektor.
Helfen Forderungen nach Verschärfungen für Hartz-IV-Empfänger, wie die vom hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) nach einem Arbeitszwang für alle?
RIGOTTI: Das ist absolut kontraproduktiv. Das mag politisch kurzfristig die Arbeitslosenzahlen nach unten drücken. Was dabei aber an Geld gespart wird, multipliziert sich später in den Ausgaben, die man im Gesundheitssystem hat, wenn immer noch weiterer Druck auf Hartz-IV-Empfänger ausgeübt wird. Anstatt Druck auszuüben und Angebote annehmen zu müssen, die zum Teil nichts mit menschenwürdiger Arbeit zu tun haben, wäre es wichtiger, Anreize zu schaffen, tatsächlich zu arbeiten. Da kann man politisch sicher auch noch einiges nachbessern, was den Zuverdienst betrifft. Es muss sich auch lohnen, zu arbeiten.
Kennen Sie Beispiele von Menschen, die trotz Vorurteile gegenüber Hartz-IV-Empfängern positiv mit ihrer Erwerbslosigkeit umgehen können. Was machen diese Leute anders?
RIGOTTI: Es gibt Erwerbslose – übrigens kein geringer Prozentsatz –, die sich mit ehrenamtlicher Arbeit engagieren, in Vereinen oder in sozialen Organisationen. Diese erleben eine Sinnhaftigkeit, eine Struktur in ihrer Tätigkeit und haben das Gefühl, dass sie gebraucht werden. Das heißt nicht, dass man einen Zwang zur ehrenamtlichen Arbeit einführen sollte. Aber Freiwilligkeit ist ein ganz wichtiger Faktor für Arbeitslose, nämlich insofern, dass man immer noch Autonomie und Kontrolle über das eigene Leben hat.
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